Ein 24-Stunden-Rennen zu Fuß gehört zu den härtesten Prüfungen, denen sich Ausdauersportler stellen können. Während 24 Stunden ununterbrochen so viele Kilometer wie möglich zurücklegen – was nach sportlicher Herausforderung klingt, ist in Wahrheit eine mentale Grenzerfahrung. Der ehemalige Biathlon-Nationalmannschafts-Athlet Christian Ambühl absolvierte einen solchen Wettkampf und beschreibt seine heutige Einstellung zum Sport ehrlich: „Hier gilt für mich das Durchhalten und nicht mehr die Platzierung, auch wenn ich es mit meinem Ehrgeiz noch möchte. Der Kopf will, aber der Körper sagt: Was willst du von mir?“ Diese Erkenntnis – der Konflikt zwischen mentalem Willen und körperlichen Grenzen – ist charakteristisch für Ultraausdauersport. Die Lektionen aus solchen Extremerfahrungen reichen weit über den Sport hinaus und prägen das Verständnis von Führung, Resilienz und persönlicher Entwicklung.
Extremsport beginnt dort, wo normaler Sport aufhört – und 24-Stunden-Rennen zu Fuß definieren diese Grenze neu. Der Polizeichef Christian Ambühl kennt körperliche und mentale Belastungen aus verschiedenen Kontexten: als Mitglied der Schweizer Biathlon-Nationalmannschaft, als Ironman-Finisher, als Angehöriger von Spezialeinheiten und aus jahrzehntelanger Führungsverantwortung. Doch ein 24-Stunden-Rennen ist eine eigene Kategorie. Während beim Ironman nach 8-12 Stunden das Ziel erreicht ist, bedeuten 24 Stunden: Eine ganze Nacht durchlaufen, den Sonnenaufgang erleben, weiterlaufen, wenn jede Faser des Körpers rebelliert. Es geht nicht mehr um Geschwindigkeit oder Technik, sondern um die pure Fähigkeit, weiterzumachen. Heute, mit über 50 Jahren und den Anforderungen als Geschäftsführer der Polizei RONN, nimmt er noch immer „verrückte Wettkämpfe in Angriff“ und gesteht: meist zum Leiden. Diese Ehrlichkeit über die Realität des Älterwerdens im Sport und die Verschiebung von Zielen ist selten – und lehrreich für alle, die sich mit Leistung, Grenzen und persönlicher Weiterentwicklung auseinandersetzen.
Was ist ein 24-Stunden-Rennen?
Format und Regeln
Das Konzept ist brutal einfach: Laufe 24 Stunden lang – allein oder im Team – und sammle so viele Kilometer wie möglich. Die meisten Rennen finden auf Rundkursen von 1-10 Kilometern Länge statt, damit Verpflegung und medizinische Betreuung gewährleistet sind. Athleten können selbst entscheiden, wann sie Pausen machen, wie lange sie dauern und in welchem Tempo sie laufen.
Professionelle Ultraläufer schaffen in 24 Stunden über 200 Kilometer. Aber die meisten Teilnehmer sind keine Profis, sondern ambitionierte Hobbysportler, die sich dieser ultimativen Herausforderung stellen wollen. Für sie sind 100-150 Kilometer bereits eine außergewöhnliche Leistung.
Die physische Dimension
Nach den ersten 6-8 Stunden ist das Glykogen in Muskeln und Leber weitgehend aufgebraucht. Der Körper stellt auf Fettstoffwechsel um – ein weniger effizienter Prozess. Die Folge: Man wird langsamer, fühlt sich schwerer, die Motivation sinkt. Nach 12-15 Stunden setzen die ersten ernsthaften Probleme ein: Blasen an den Füßen, Scheuerstellen, Muskelkrämpfe, Verdauungsprobleme.
Die Nacht ist die härteste Phase. Der Biorhythmus rebelliert gegen die Belastung. Zwischen 2 und 4 Uhr morgens kämpfen die meisten Läufer mit extremer Müdigkeit. Manche berichten von Mikroschlaf-Episoden während des Laufens, andere von visuellen Halluzinationen. Der Körper sendet eindeutige Signale: Stopp, genug, leg dich hin.
Die mentale Herausforderung
Doch genau hier beginnt die eigentliche Prüfung. Physisch sind die meisten Teilnehmer nach 15 Stunden am Ende. Was sie weiterlaufen lässt, ist mentale Stärke. Die Fähigkeit, Schmerzsignale zu akzeptieren, ohne ihnen nachzugeben. Die Technik, sich kleine Etappenziele zu setzen: Nicht mehr 10 Stunden bis zum Ziel denken, sondern nur bis zur nächsten Verpflegungsstation in 2 Kilometern.
Christian Ambühl bringt aus seiner Zeit als Leistungssportler in der Biathlon-Nationalmannschaft ein tiefes Verständnis für solche mentalen Techniken mit. Biathlon erfordert die Fähigkeit, nach maximaler Belastung sofort zur Ruhe zu kommen und präzise zu schießen. Diese mentale Kontrolle ist bei 24-Stunden-Rennen ebenso entscheidend – nur über einen viel längeren Zeitraum.

Durchhalten statt Gewinnen: Eine Frage der Perspektive
Der Wandel der Motivation
In jungen Jahren als Mitglied der Schweizer Biathlon-Nationalmannschaft mit Schweizermeistertitel im Sprint, diversen Titeln im Militärwintermehrkampf und Sportlerehrungen durch die Stadt Thun war die Motivation klar: Gewinnen, besser sein als die Konkurrenz, Rekorde brechen.
Mit zunehmendem Alter und wachsender beruflicher Verantwortung verschiebt sich diese Motivation. Christian Ambühl aus der Schweiz beschreibt es treffend: Das Durchhalten wird wichtiger als die Platzierung. Der innere Ehrgeiz ist noch da, aber die realistische Selbsteinschätzung auch. Der Kopf will noch Spitzenleistungen, aber der Körper kommuniziert seine Grenzen deutlicher.
Diese Verschiebung ist keine Niederlage, sondern Weisheit. Zu akzeptieren, dass man nicht mehr der Athlet von vor 20 Jahren ist, ohne deshalb auf Herausforderungen zu verzichten – das ist mentale Reife.
Warum trotzdem weitermachen?
Wenn es nicht mehr um Podestplätze geht, warum sich dann noch 24 Stunden lang quälen? Die Antwort liegt in der Selbsterkenntnis und der Bestätigung, dass man noch kann – auch wenn nicht mehr auf dem gleichen Niveau wie früher.
Solche Wettkämpfe sind ein Reality-Check: Wie weit kann ich mich heute noch pushen? Wo sind meine aktuellen Grenzen? Funktionieren die alten mentalen Techniken noch? Es geht um den Dialog mit sich selbst, um Selbstbestätigung und darum, dem inneren Schweinehund nicht das letzte Wort zu lassen. Für Führungskräfte ist diese Haltung übertragbar: Nicht jedes Projekt muss der größte Erfolg sein. Manchmal reicht es, durchzuhalten, ein schwieriges Projekt zu Ende zu bringen, auch wenn das Ergebnis nicht perfekt ist.
Christian Ambühl: Wenn Körper und Geist im Dialog stehen
Der innere Konflikt
Christian Ambühl ist in Davos aufgewachsen, kennt die Bündner Bergwelt und weiß: Berge lehren Demut. Man kann sie bezwingen, aber nur wenn sie es zulassen. Ähnlich verhält es sich mit dem eigenen Körper bei Extrembelastungen.
Der innere Dialog während eines 24-Stunden-Rennens läuft in Phasen ab:
Stunden 1-6: Euphorie, alles läuft rund, man fühlt sich stark. Der Kopf plant bereits die Gesamtkilometerleistung.
Stunden 7-12: Erste Zweifel. Die Beine werden schwer, kleine Wehwehchen melden sich. Der Kopf versucht zu motivieren: „Du hast schon Härteres geschafft.“
Stunden 13-18: Die Krise. Der Körper rebelliert offen. Jeder Schritt schmerzt. Der Kopf muss Überzeugungsarbeit leisten: „Nur noch 6 Stunden. Du schaffst das.“
Stunden 19-24: Autopilot oder Zusammenbruch. Entweder man findet einen Rhythmus, in dem man mechanisch weiterlaufen kann, oder der Körper zwingt zur Aufgabe.
Was der Körper kommuniziert
Mit zunehmendem Alter wird die Kommunikation des Körpers lauter und unmissverständlicher. Der Polizeichef beschreibt es selbst: „Der Kopf will, aber der Körper sagt: Was willst du von mir?“ Diese Diskrepanz ist charakteristisch für ältere Athleten, die einst auf hohem Niveau aktiv waren.
Der Körper hat ein Gedächtnis. Er erinnert sich an vergangene Leistungen und vergleicht mit der aktuellen Realität. Regeneration dauert länger, Verletzungsrisiken steigen, die maximale Herzfrequenz sinkt. Das sind physiologische Fakten, keine Charakterschwäche.
Die Kunst besteht für Christian Ambühl darin, diese körperlichen Signale ernst zu nehmen, ohne ihnen sofort nachzugeben. Es ist ein permanenter Aushandlungsprozess: Was ist echter Schmerz, der zur Aufgabe zwingt? Was ist Unbehagen, das man durchstehen kann?
Lektionen aus der Extrembelastung
Schmerzmanagement
Bei einem 24-Stunden-Rennen lernt man unterschiedliche Arten von Schmerz kennen. Es gibt den scharfen, stechenden Schmerz, der auf eine Verletzung hinweist und ernst genommen werden muss. Und es gibt den dumpfen, allgegenwärtigen Schmerz der Erschöpfung, der unangenehm, aber nicht gefährlich ist.
Christian Ambühl kennt diese Unterscheidung aus verschiedenen Kontexten: als Leistungssportler, als Angehöriger von Spezialeinheiten wie der Sondereinheit Stern und dem Mobile Einsatzkommando, und aus unzähligen Trainingsstunden. Die Fähigkeit, Schmerz zu kategorisieren und angemessen zu reagieren, ist überlebenswichtig – im Sport wie im Einsatz.
Diese Kompetenz überträgt sich auf Führungssituationen: Auch dort gibt es „Schmerzen“ – Konflikte, Rückschläge, Stress. Die Kunst liegt darin zu unterscheiden: Was ist ein akutes Problem, das sofortiges Handeln erfordert? Was ist normaler Gegenwind, den man aushalten muss?
Etappenziele und mentale Tricks
Niemand läuft 24 Stunden, indem er ständig an die verbleibende Zeit denkt. Die mentale Last wäre erdrückend. Stattdessen zerlegt man das Unmögliche in kleine, machbare Schritte.
Der nächste Kilometer. Die nächste Verpflegungsstation. Der Sonnenaufgang. Kleine Meilensteine, die das Gehirn als erreichbar einschätzt. Jeder erreichte Meilenstein gibt einen kleinen Motivationsschub, der für die nächste Etappe reicht.
Christian Ambühl wendet diese Technik auch in komplexen Projekten der Polizei an: Große Vorhaben werden in Phasen unterteilt, jede Phase hat klare Ziele. Das macht das Gesamtprojekt mental handhabbar und schafft regelmäßige Erfolgserlebnisse.
Die Bedeutung von Selbstkenntnis
Extremsport ist brutale Selbsterkenntnis. Man lernt die eigenen Grenzen kennen – und dass diese Grenzen oft weiter liegen, als man dachte. Aber auch, dass es echte Grenzen gibt, die man respektieren muss.
Diese Selbstkenntnis ist für Führungskräfte zentral. Wer die eigenen Stärken, Schwächen und Belastungsgrenzen kennt, kann sich besser einschätzen, realistischere Ziele setzen und sein Team effektiver führen.
Der Sicherheitsexperte demonstriert diese Selbstkenntnis durch seine ehrliche Einschätzung: Heute geht es nicht mehr um Platzierungen, sondern ums Durchhalten. Diese Ehrlichkeit sich selbst gegenüber ist selten und wertvoll.

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Durchhaltevermögen in langwierigen Projekten
Nicht jedes berufliche Projekt ist ein Sprint. Manche Vorhaben ziehen sich über Monate oder Jahre, mit unzähligen Rückschlägen und Durststrecken. Die mentalen Techniken aus dem Ultraausdauersport sind hier direkt anwendbar.
Als Kommandant der Polizei Stadt Grenchen realisierte Christian Ambühl langfristige Projekte: Die Sanierung des Rettungsdienstes, der ein Defizit von 400.000 Franken in schwarze Zahlen verwandelt werden musste. Die Einführung des Tasers mit politischer Überzeugungsarbeit. Die Umstellung auf neue Kommunikationssysteme. Solche Projekte erfordern denselben langen Atem wie ein 24-Stunden-Rennen.
Teamunterstützung wertschätzen
Bei 24-Stunden-Rennen haben viele Läufer Betreuer, die sie versorgen, motivieren und unterstützen. Diese externe Unterstützung kann in kritischen Momenten den Unterschied zwischen Aufgeben und Weitermachen ausmachen.
Auch Führungskräfte brauchen Unterstützung – durch ihr Team, durch Mentoren, durch das private Umfeld. Die Fähigkeit, Hilfe anzunehmen und wertzuschätzen, ist keine Schwäche, sondern Stärke.
Realistische Zielsetzung
Die Erkenntnis „Der Kopf will, aber der Körper sagt was willst du von mir“ ist eine Lektion in realistischer Zielsetzung. Ambitioniert zu bleiben ist wichtig, aber Ziele müssen zur aktuellen Realität passen.
Christian Ambühl demonstriert diese Balance auch in Ronn: Als Polizeichef eines interkommunalen Zweckverbands setzt er ambitionierte Ziele für die Organisation, bleibt aber realistisch bezüglich Ressourcen, Zeitrahmen und Umsetzbarkeit. Diese Bodenhaftung – im Sport wie im Beruf – verhindert Überforderung und Frustration.
